2010–2019
Hat der Tag der Wundertaten aufgehört?
Herbst-Generalkonferenz 2017


Hat der Tag der Wundertaten aufgehört?

Wir müssen vor allem die geistigen Wunder im Blick haben, die allen Kindern Gottes offenstehen.

Als ich vor einem Jahr im Rahmen eines Auftrags in Kalifornien war, besuchte ich mit einem Pfahlpräsidenten die Familie von Clark und Holly Fales. Ich erfuhr, dass sie kürzlich ein Wunder erlebt hatten. Als wir ankamen, stand Clark schwerfällig auf, um uns zu begrüßen. Er trug eine Rückenstütze, eine Halsstütze und beide Arme waren geschient.

Nur zwei Monate zuvor waren Clark, sein Sohn Ty und ungefähr 30 weitere Junge Männer und deren Jugendführer zu einer Pfahlaktivität, einer Abenteuerwanderung, aufgebrochen. Sie wollten den 4300 Meter hohen Mount Shasta besteigen, einen der höchsten Gipfel in Kalifornien. Am zweiten Tag der mühsamen Wanderung erreichten die meisten Teilnehmer den Gipfel, eine aufregende Leistung, die nur durch monatelange Vorbereitung möglich geworden war.

Clark erreichte als einer der Ersten den Gipfel. Nach einer kurzen Pause nicht weit vom Rand des Gipfels entfernt stand er auf und wollte losgehen. Dabei stolperte er und fiel rückwärts über den Rand einer Klippe 12 Meter tief im freien Fall und stürzte danach noch unkontrollierbar ungefähr 90 Meter einen vereisten Abhang hinunter. Erstaunlicherweise überlebte Clark, war aber schwer verletzt und konnte sich nicht bewegen.

Doch die Wunder, die Clark im Zusammenhang mit diesem traumatischen Ereignis erleben sollte, nahmen erst ihren Anfang. „Zufälligerweise“ befand sich eine Wandergruppe bestehend aus Bergrettern und Notfallmedizinern unter den Ersten, die ihn erreichten. Sie behandelten Clarks Schock und versorgten ihn mit wärmender Ausrüstung. „Zufälligerweise“ testete die Gruppe auch ein neues Kommunikationsgerät und sandte einen Notruf von einem Gebiet aus, in dem Mobiltelefone kein Netz hatten. Aus einer Stunde Entfernung wurde ein kleiner Hubschrauber sofort zum Mount Shasta losgeschickt. Nach zwei gefährlichen, aber erfolglosen Landeversuchen in einer Höhenlage, die das Fluggerät an seine Grenzen brachte, und obendrein tückischen Winden unternahm der Pilot einen dritten und letzten Versuch. Als sich der Hubschrauber aus einer anderen Richtung näherte, änderte sich „zufälligerweise“ die Windrichtung und er konnte gerade lange genug landen, dass die Gruppe Clark schnell und unter größter Anstrengung in den kleinen Bereich hinter dem Pilotensitz quetschen konnte.

Als er in einer Unfallklinik untersucht wurde, zeigten die Tests, dass er neben mehreren Knochenbrüchen an Hals und Rücken, an den Rippen und den Handgelenken einen Lungenriss und zahlreiche Schnittwunden und Abschürfungen erlitten hatte. „Zufälligerweise“ hatte ein anerkannter Neurochirurg ausgerechnet an jenem Tag Dienst, obwohl er nur wenige Tage im Jahr in ebendieser Klinik ist. Später sagte er, er habe es noch nie erlebt, dass jemand solch schwere Verletzungen am Rückenmark und der Halsschlagader überlebt. Clark hat nicht nur überlebt, man geht auch davon aus, dass er wieder völlig gesund wird. Der Chirurg, der sich als Agnostiker bezeichnet, erklärte, dass Clarks Fall allem widerspricht, was er je über neurologische Verletzungen gelernt hat, und nur als Wunder beschrieben werden kann.

Nachdem Clark und Holly diese bewegende Geschichte erzählt hatten, fehlten mir die Worte. Nicht wegen der offensichtlichen Wunder, sondern wegen eines noch größeren. Ich hatte eine klare Eingebung, ein geistiges Zeugnis, dass Holly und jedes der fünf wunderbaren Kinder, die im Wohnzimmer bei ihren Eltern saßen, solchen Glauben haben, dass sie an jenem Tag jeden Ausgang hätten hinnehmen können und es ihnen geistig wohl ergangen wäre. Clark, Holly und ihre beiden ältesten Kinder Ty und Porter sind heute bei uns hier im Konferenzzentrum.

Als ich über das Erlebnis der Familie Fales nachdachte, kamen mir die Umstände so vieler anderer in den Sinn. Was ist mit den unzähligen glaubensvollen Heiligen der Letzten Tage, die Priestertumssegen empfangen, für die unendlich viel gebetet wird, die ihre Bündnisse halten und voller Hoffnung sind, deren Wunder niemals geschieht? Zumindest nicht so, wie sie ein Wunder erwarten. Zumindest nicht so, wie andere scheinbar Wunder erleben.

Was ist mit denen, die große Bedrängnisse erleiden – körperliche, mentale und seelische – und das über Jahre, Jahrzehnte oder ihr ganzes Erdenleben lang? Was ist mit denen, die sehr jung sterben?

Vor zwei Monaten stiegen zwei tempelwürdige Ehepaare für einen kurzen Flug in ein kleines Flugzeug. Sie hatten insgesamt drei Kinder auf Vollzeitmission und fünf weitere Kinder. Ich bin mir sicher, dass sie vorher für einen sicheren Flug gebetet hatten, und auch, dass sie inständig beteten, als es am Flugzeug zu ernsthaften mechanischen Problemen kam und es abstürzte. Niemand überlebte. Was ist mit ihnen?

Gibt es vielleicht einen Grund, warum gute Menschen und ihre Lieben Mormons Frage stellen: „Hat … der Tag der Wundertaten aufgehört?“1

Ich kann mit meiner begrenzten Erkenntnis nicht erklären, warum Gott manchmal eingreift und ein andermal nicht. Aber vielleicht verstehen wir nicht, was ein Wunder ausmacht.

Wir beschreiben ein Wunder oft als eine Heilung, die medizinisch nicht völlig erklärbar ist, oder so, dass man einer verhängnisvollen Gefahr ausweicht, weil man auf eine deutliche Eingebung hört. Wenn man ein Wunder jedoch als „ein zuträgliches Ereignis, das durch göttliche Macht zustande kommt und das die Menschen nicht verstehen“2 definiert, erweitert das unsere Sichtweise auf Aspekte, die eher ewiger Natur sind. Außerdem können wir anhand dieser Definition darüber nachdenken, wie wichtig die Rolle des Glaubens ist, wenn man ein Wunder empfängt.

Moroni erklärte: „Auch zu jeder anderen Zeit hat jemand Wundertaten erst gewirkt, nachdem er Glauben hatte.“3 Ammon verkündete: „Gott [hat] ein Mittel bereitet, wie der Mensch durch den Glauben mächtige Wundertaten vollbringen kann.“4 Der Herr offenbarte Joseph Smith: „Denn ich bin Gott, … und ich werde Wundertaten … all denen zeigen, die an meinen Namen glauben.“5

König Nebukadnezzar verlangte, dass Schadrach, Meschach und Abed-Nego ein goldenes Standbild anbeten sollten, das er als Gott aufgestellt hatte, und drohte: „Betet ihr es aber nicht an, dann werdet ihr … in den glühenden Feuerofen geworfen.“ Er verspottete sie mit der Frage: „Welcher Gott kann euch dann aus meiner Gewalt erretten?“6

Diese drei gottesfürchtigen Jünger antworteten: „Wenn überhaupt jemand, so kann nur unser Gott, den wir verehren, uns [aus dem glühenden Feuerofen] erretten … Tut er es aber nicht, so sollst du, König, wissen: Auch dann verehren wir deine Götter nicht.“7

Sie vertrauten voll und ganz darauf, dass Gott sie retten könne, sollte er es aber nicht tun, hatten sie vollkommenen Glauben an seinen Plan.

So ähnlich war die Situation, als Elder David A. Bednar einen jungen Mann fragte, der um einen Priestertumssegen gebeten hatte: „Sollte es der Wille unseres Vaters im Himmel sein, dass du in deiner Jugend durch den Tod in die Geisterwelt versetzt wirst, um dort deinen Dienst fortzusetzen, hast du dann den Glauben, dich seinem Willen zu unterwerfen und nicht geheilt zu werden?“8 Haben wir den Glauben, von unseren irdischen Bedrängnissen „nicht geheilt zu werden“, damit wir auf ewig geheilt werden können?

Eine wichtige Frage, über die wir nachdenken müssen, lautet: Worin setzen wir unseren Glauben? Richten wir unseren Glauben nur auf den Wunsch, von unserem Schmerz und Leid befreit zu werden, oder ist er fest auf Gottvater und seinen heiligen Plan und auf Jesus den Messias und dessen Sühnopfer ausgerichtet? Glaube an den Vater und an den Sohn ermöglicht es uns, in Vorbereitung auf die Ewigkeit ihren Willen zu verstehen und anzunehmen.

Ich lege heute Zeugnis für Wunder ab. Es ist ein Wunder, ein Kind Gottes zu sein.9 Es ist ein Wunder, einen Körper in seinem Abbild, ihm selbst ähnlich, zu erhalten.10 Es ist ein Wunder, dass uns ein Erretter geschenkt wurde.11 Das Sühnopfer Jesu Christi ist ein Wunder.12 Es ist ein Wunder, dass wir ewiges Leben erlangen können.13

Es ist gut, dass wir darum beten, während unseres irdischen Daseins körperlich beschützt und geheilt zu werden, und dass wir etwas dafür tun. Doch vor allem müssen wir die geistigen Wunder im Blick haben, die allen Kindern Gottes offenstehen. Ganz gleich, welchem Volk oder welcher Nation wir angehören, ganz gleich, was wir getan haben, solange wir umkehren, ganz gleich, was uns angetan wurde, wir alle haben den gleichen Zugang zu diesen Wundern. Unser Leben ist ein Wunder, und weitere Wunder liegen vor uns. Im Namen Jesu Christi. Amen.