2010–2019
Unser Leben – ein Wettlauf
April 2012


Unser Leben – ein Wettlauf

Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Was geschieht mit uns nach diesem Leben? Diese allumfassenden Fragen müssen nicht länger unbeantwortet bleiben.

Meine lieben Brüder und Schwestern, ich möchte heute Morgen über ewige Wahrheiten zu Ihnen sprechen – Wahrheiten, die unser Leben bereichern und uns sicher nach Hause führen.

Überall sind die Menschen in Eile. Düsengetriebene Flugzeuge befördern ihre kostbare menschliche Fracht hinweg über ausgedehnte Kontinente und weite Ozeane, damit Geschäftstermine wahrgenommen, Verpflichtungen eingehalten, Urlaubsreisen genossen oder Angehörige besucht werden können. Auf den Straßen überall – auch auf den Autobahnen und Kraftfahrstraßen und Schnellstraßen – bewegen sich in einem scheinbar endlosen Strom und aus unzähligen Gründen Millionen von Autos mit Millionen von Insassen, während wir Tag für Tag gehetzt unseren Beschäftigungen nachgehen.

Halten wir bei diesem hektischen Lebensrhythmus je inne, um in uns zu gehen – um uns mit Wahrheiten zu befassen, die zeitlos sind?

Gemessen an ewig gültigen Wahrheiten sind die meisten Alltagsfragen und -sorgen doch recht belanglos. Was soll es zum Abendessen geben? In welcher Farbe wollen wir das Wohnzimmer streichen? Sollen wir Johnny im Fußballverein anmelden? Diese und unzählige ähnliche Fragen verlieren an Bedeutung, wenn Krisenzeiten anbrechen, wenn jemand, der uns nahesteht, Schaden nimmt, wenn Krankheit eine Familie heimsucht, in der es bisher allen gutging, wenn die Kerze des Lebens beinahe erlischt und Dunkelheit droht. Das bündelt unsere Gedanken und es fällt uns leicht, zu unterscheiden zwischen dem, worauf es wirklich ankommt, und dem, was lediglich von geringer Bedeutung ist.

Vor kurzem besuchte ich eine Frau, die seit über zwei Jahren einer lebensbedrohlichen Krankheit trotzt. Sie erzählte, dass sie vor ihrer Erkrankung zumeist den ganzen Tag damit beschäftigt war, ihr Haus blitzsauber zu halten und mit schönen Einrichtungsgegenständen auszustatten. Sie ging zweimal die Woche zum Friseur und wendete jeden Monat Zeit und Geld auf, um ihre Kleidersammlung zu erweitern. Ihre Enkelkinder lud sie nur selten zu sich ein, denn sie war stets besorgt, dass ihre vermeintlich so kostbaren Besitztümer zerbrechen oder in anderer Weise den kleinen und unachtsamen Händen zum Opfer fallen könnten.

Doch dann erhielt sie die erschreckende Nachricht, dass ihr irdisches Leben am seidenen Faden hing und ihr vielleicht nur noch wenig Zeit blieb. Wie sie sagt, war ihr in dem Augenblick, als sie die Diagnose des Arztes hörte, mit einem Mal klar, dass sie die unbestimmte Zeit, die ihr noch blieb, ihrer Familie, ihren Freunden und dem Evangelium als Lebensmittelpunkt widmen würde, denn dies alles war ihr am wichtigsten.

Wir alle erleben in ähnlicher Weise hin und wieder Momente, in denen wir alles deutlich vor Augen haben, wenn sie auch nicht immer von solch einschneidenden Umständen begleitet sind. Wir erkennen ganz klar, worauf es wirklich ankommt im Leben und wie wir leben sollten.

Der Erlöser hat gesagt:

„Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen,

sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen.

Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“1

In Zeiten, da der Mensch in sich geht oder aber in großer Not ist, wendet sich seine Seele himmelwärts und sehnt sich nach Antworten Gottes auf die großen Fragen des Lebens: Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Was geschieht mit uns nach diesem Leben?

Antworten auf diese Fragen findet man nicht in Lehrbüchern und auch nicht, wenn man im Internet nachschaut. Diese Fragen reichen über das Erdenleben hinaus. Sie erstrecken sich in die Ewigkeit.

Woher kommen wir? Diese Frage kommt – ob sie ausgesprochen wird oder nicht – unausweichlich jedem Menschen in den Sinn.

Der Apostel Paulus verkündete den Athenern auf dem Areopag: „Wir [sind] von Gottes Art.“2 Da wir wissen, dass unser physischer Körper aus unseren irdischen Eltern entstanden ist, müssen wir fragen, was Paulus damit meint. Der Herr hat erklärt, dass der Geist und der Körper die Seele des Menschen sind.3 Es ist also der Geist, der nach Gottes Art ist. Der Verfasser des Hebräerbriefs bezeichnet Gott als den „Vater der Geister“.4 Die Geister aller Menschen sind buchstäblich für ihn „gezeugte Söhne und Töchter“.5

Inspirierte Dichter haben bewegende Botschaften und Gedanken, die nicht auf das Irdische beschränkt sind, zu Papier gebracht, die unsere Gedanken zu diesem Thema erhellen. Wahrheit steckt in diesen Zeilen von William Wordsworth:

Geboren werden ist ein Schlaf nur, ein Vergessen –

die Seele, die aufgeht mit uns, die unsres Lebens Stern,

ist vordem anderswo zuhaus’ gewesen

und kommt daher von fern.

Nicht alles sie vergessen hat,

nicht gleicht sie unbeschriebnem Blatt:

Nach uns ziehend Wolkenglanz und Glorienschein,

von Gott wir kommen, er ist unser Heim.

Der Himmel uns umgibt in Kindertagen!6

Eltern machen sich Gedanken über ihre Aufgabe, ihre Kinder zu lehren, anzuspornen, zu führen und ihnen Vorbild zu sein. Und während die Eltern noch nachdenken, stellen Kinder – insbesondere Jugendliche – die dringliche Frage: „Wozu sind wir hier?“ In der Regel wird diese Frage tief im Inneren gestellt und lautet eigentlich: „Wozu bin ich hier?“

Wir sollten sehr dankbar sein, dass ein weiser Schöpfer eine Erde gestaltet und uns mit einem Schleier des Vergessens, der unsere vorangegangene Existenz bedeckt, hierhergeschickt hat, damit wir eine Prüfungszeit durchlaufen – als Gelegenheit, uns zu bewähren und uns all dessen würdig zu erweisen, was Gott für uns bereitet hat.

Ein wesentlicher Zweck unseres Daseins auf der Erde besteht eindeutig darin, einen Körper aus Fleisch und Knochen zu erlangen. Außerdem wurde uns Entscheidungsfreiheit geschenkt. In tausendfacher Hinsicht dürfen wir uns selbst entscheiden. Wir lernen hier durch Erfahrung, die ein strenger Schulmeister ist. Wir können zwischen Gut und Böse unterscheiden. Ebenso zwischen dem, was bitter ist, und dem, was süß ist. Wir entdecken, dass alles, was wir tun, Folgen nach sich zieht.

Indem wir Gottes Geboten gehorchen, können wir uns ein Anrecht darauf erwerben, in das „Haus“ einzuziehen, von dem Jesus sprach, als er verkündete: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen. … Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten, … damit auch ihr dort seid, wo ich bin.“7

Obwohl wir noch einen Glorienschein nach uns ziehen, wenn wir ins Erdenleben treten, geht das Leben doch unablässig weiter. Auf die Kindheit folgt die Jugend, und ehe man sich versieht, ist man erwachsen. Die Erfahrung lehrt uns, dass wir nach dem Himmel greifen müssen, um auf unserem Weg durchs Leben Hilfe zu bekommen.

Gott, unser Vater, und Jesus Christus, unser Herr, haben den Weg zur Vollkommenheit abgesteckt. Sie laden uns ein, uns an ewige Wahrheiten zu halten und vollkommen zu werden, wie sie es sind.8

Der Apostel Paulus hat das Leben mit einem Wettlauf verglichen. Die Hebräer ermahnte er: „Wir [wollen] alle Last und die Fesseln der Sünde abwerfen. Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der uns aufgetragen ist.“9

Übersehen wir bei allem Eifer aber auch nicht diesen klugen Rat aus dem Buch Kohelet: „Nicht den Schnellen gehört im Wettlauf der Sieg, nicht den Tapferen der Sieg im Kampf.“10 Vielmehr gewinnt der den Preis, der bis ans Ende ausharrt.

Wenn ich an den Wettlauf, den wir im Leben austragen, denke, fällt mir ein Wettrennen aus meiner Kindheit ein. Meine Freunde und ich nahmen unsere Taschenmesser zur Hand und schnitzten damit aus weichem Weidenholz kleine Spielzeugboote. Diese bekamen jeweils ein dreieckiges Baumwolltuch als Segel, ehe jeder von uns sein plumpes Wasserfahrzeug für ein Wettrennen im Provo River, der eine recht starke Strömung hatte, zu Wasser ließ. Wir liefen am Flussufer entlang und beobachteten, wie die Bötchen in der starken Strömung manchmal heftig durchgeschaukelt wurden, aber auch ruhig dahinglitten, sobald sie in tieferes Wasser kamen.

Während eines solchen Wettrennens bemerkten wir, dass ein Boot all die anderen auf dem Weg zur festgelegten Ziellinie anführte. Plötzlich trug die Strömung es zu nahe an einen großen Strudel heran, und das Boot neigte sich seitwärts und kenterte. Unaufhörlich drehte es sich im Kreis herum und gelangte nicht wieder in die Hauptströmung zurück. Schließlich blieb es abrupt in all dem Treibgut, das es umgab, stecken, festgehalten vom Klammergriff wuchernder grüner Algen.

Die Spielzeugboote unserer Kindheit hatten keinen Kiel, der ihnen Stabilität verliehen hätte, kein Ruder, um sie zu steuern, und auch keine Antriebskraft. Sie konnten nur flussabwärts schwimmen – den Weg des geringsten Widerstands.

Anders als die Spielzeugboote sind wir mit göttlichen Eigenschaften ausgestattet worden, die uns auf der Reise leiten. Wir kommen nicht in die Welt, um uns in den unruhigen Strömungen des Lebens treiben zu lassen, sondern mit einem Denkvermögen, Vernunftbegabung und der Fähigkeit, etwas zu leisten.

Der Vater im Himmel hat uns nicht auf unsere Reise durch die Ewigkeit geschickt, ohne uns die Mittel an die Hand zu geben, mit denen wir von ihm die Führung bekommen können, die uns sicher nach Hause bringt. Ich spreche vom Gebet. Ich spreche von den Einflüsterungen der sanften, leisen Stimme, und ich lasse auch nicht die heiligen Schriften außer Acht, in denen wir das Wort des Herrn und die Worte der Propheten zu unserer Verfügung haben, damit wir es über die Ziellinie schaffen können.

Irgendwann während unserer Mission hier auf der Erde werden unsere Schritte unsicher, wird das Lächeln blasser, stellen sich Schmerz und Krankheit ein – der Sommer neigt sich schließlich dem Ende zu, der Herbst naht, der kalte Winter kündigt sich an und wir machen die Erfahrung, die wir Tod nennen.

Jeder nachdenkliche Mensch hat sich schon einmal die Frage gestellt, die keiner besser ausgedrückt hat als vor alters Ijob: „Wenn einer stirbt, lebt er dann wieder auf?“11 So sehr wir uns auch bemühen, diese Frage zu verdrängen, sie kehrt immer zurück. Alle Menschen müssen sterben. Der Tod kommt zu den Alten, die auf schwachen Beinen stehen. Sein Ruf ergeht an diejenigen, die kaum die Hälfte ihres Lebenswegs beschritten haben. Manchmal lässt er das Lachen kleiner Kinder verstummen.

Doch wie geht es nach dem Tod weiter? Ist mit dem Tod alles vorbei? Robert Blatchford griff in seinem Buch Gott und mein Nächster energisch allgemein anerkannte christliche Überzeugungen wie Gott, Christus, Gebet und insbesondere Unsterblichkeit an. Er verkündete kühn, dass der Tod das Ende unseres Daseins sei und niemand das Gegenteil beweisen könne. Dann geschah etwas Unerwartetes. Die Mauer seiner Skepsis zerfiel plötzlich zu Staub. Er blieb ohne Schutz und Verteidigung zurück. Langsam tastete er sich zurück auf den Weg zu dem Glauben, den er verspottet und aufgegeben hatte. Was hatte diesen grundlegenden Wandel seiner Sichtweise bewirkt? Seine Frau war gestorben. Voller Kummer ging er in das Zimmer, in dem ihre sterblichen Überreste lagen. Er blickte noch einmal in das Gesicht, das er so sehr geliebt hatte. Als er aus dem Zimmer kam, sagte er zu einem Freund: „Sie ist es, und sie ist es doch nicht. Nichts ist mehr, wie es war. Etwas, was vorher da war, ist fortgenommen worden. Sie ist nicht mehr dieselbe. Was wurde fortgenommen, wenn nicht die Seele?“

Später schrieb er: „Der Tod ist nicht das, was einige Menschen sich vorstellen. Es ist nur so, als gehe man in einen anderen Raum. In diesem anderen Raum finden wir … die teuren Frauen und Männer und die süßen Kinder, die wir geliebt und verloren haben.“12

Meine Brüder und Schwestern, wir wissen, dass der Tod nicht das Ende darstellt. Diese Wahrheit haben lebende Propheten zu allen Zeiten verkündet. Sie ist auch in unseren heiligen Schriften zu finden. Im Buch Mormon lesen wir diesbezüglich die tröstlichen Worte:

„Was nun den Zustand der Seele zwischen dem Tod und der Auferstehung betrifft – siehe, mir ist von einem Engel kundgetan worden, dass der Geist eines jeden Menschen, sobald er aus diesem sterblichen Leib geschieden ist, ja, der Geist eines jeden Menschen, sei er gut oder böse, zu dem Gott heimgeführt wird, der ihm das Leben gegeben hat.

Und dann wird es sich begeben: Der Geist derjenigen, die rechtschaffen sind, wird in einen Zustand des Glücklichseins aufgenommen, den man Paradies nennt, einen Zustand der Ruhe, einen Zustand des Friedens, wo er von all seinen Beunruhigungen und von allem Kummer und aller Sorge ausruhen wird.“13

Nachdem der Erlöser gekreuzigt worden war und sein Leib drei Tage im Grab gelegen hatte, kehrte der Geist in ihn zurück. Der Stein wurde fortgerollt und der auferstandene Erlöser trat hervor, mit einem unsterblichen Körper aus Fleisch und Knochen versehen.

Die Antwort auf Ijobs Frage, ob jemand, der gestorben ist, wieder auflebt, wurde gegeben, als Maria und andere zum Grab kamen und zwei Männer in leuchtenden Gewändern erblickten, die zu ihnen sprachen: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden.“14

Weil Christus das Grab überwunden hat, werden auch wir alle auferstehen. Das ist die Erlösung der Seele. Paulus schrieb: „Auch gibt es Himmelskörper und irdische Körper. Die Schönheit der Himmelskörper ist anders als die der irdischen Körper.“15

Wir streben nach celestialer Herrlichkeit. Wir sehnen uns danach, in der Gegenwart Gottes zu wohnen. Wir möchten zu einer Familie gehören, die für immer Bestand hat. Solche Segnungen verdient man sich, wenn man sich sein Leben lang abmüht, sucht, umkehrt und schließlich Erfolg hat.

Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Was geschieht mit uns nach diesem Leben? Diese allumfassenden Fragen müssen nicht länger unbeantwortet bleiben. Aus tiefster Seele und in aller Demut bezeuge ich, dass das, wovon ich gesprochen habe, die Wahrheit ist.

Der Vater im Himmel freut sich über jeden, der seine Gebote hält. Ihm ist auch an dem Kind gelegen, das abgeirrt ist, dem säumigen Teenager, dem eigensinnigen Jugendlichen, den Eltern, die ihre Pflicht vernachlässigen. Voller Zuneigung spricht er zu ihnen, ja, zu allen: „Kommt zurück. Kommt her. Kommt herein. Kommt nach Hause. Kommt zu mir.“

In einer Woche feiern wir Ostern. Unsere Gedanken wenden sich dem Leben des Erretters zu, seinem Tod und seiner Auferstehung. Als sein besonderer Zeuge gebe ich Ihnen Zeugnis, dass er lebt und dass er unsere glorreiche Rückkehr erwartet. Dass auch wir so zurückkehren, dafür bete ich demütig in seinem heiligen Namen – ja, im Namen Jesu Christi, unseres Erretters und Erlösers. Amen.