2000–2009
Kehrt um, damit ich euch heile
Oktober 2009


Kehrt um, damit ich euch heile

Der Aufruf, umzukehren, ist selten eine züchtigende Stimme, sondern eher eine liebevolle Aufforderung, sich umzudrehen und sich Gott wieder zuzuwenden.

Meine Brüder und Schwestern, vor sechs Monaten wurde ich ins Kollegium der Zwölf Apostel berufen. Es stimmt mich nach wie vor demütig, dass ich gemeinsam mit Männern diene, die mir immer Vorbild und Lehrer waren. Ich weiß Ihre Gebete und Ihre Unterstützung wirklich zu schätzen. Ich habe in dieser Zeit inständig gebetet und aufrichtig danach getrachtet, vom Herrn angenommen zu werden. Ich habe seine Liebe auf heilige und unvergessliche Weise verspürt. Ich bezeuge, dass er lebt und dass dies sein heiliges Werk ist.

Wir alle haben Präsident Thomas S. Monson, den Propheten des Herrn, gern. Ich werde seine Freundlichkeit nie vergessen, als er mich im vergangenen April berief. Am Ende unserer Unterredung breitete er seine Arme aus, um mich zu umarmen. Präsident Monson ist sehr groß. Als er seine langen Arme um mich legte und mich an sich drückte, fühlte ich mich wie ein kleiner Junge, den ein liebevoller Vater schützend in seinen Armen hält.

Seitdem habe ich an die Einladung des Herrn gedacht, zu ihm zu kommen und in geistiger Hinsicht von seinen Armen umfangen zu sein. Er hat gesagt: „Siehe, [meine Arme] der Barmherzigkeit [sind] euch entgegengestreckt, und wer auch immer kommt, den werde ich empfangen; und gesegnet sind jene, die zu mir kommen.“1

In den heiligen Schriften heißt es, dass seine Arme offen2, ausgestreckt3 und erhoben4 sind und uns umschließen5. Sie werden mächtig6 und heilig7 genannt, Arme der Barmherzigkeit8, der Sicherheit9 und der Liebe10, die „den ganzen Tag lang ausgestreckt“11 sind.

In gewissem Maße hat jeder schon diese geistigen Arme um sich gespürt. Wir haben die Vergebung, die Liebe und den Trost des Herrn gespürt. Der Herr hat gesagt: „Ich bin derjenige, der euch tröstet.“12

Der Wunsch des Herrn, wir mögen zu ihm kommen und von seinen Armen umfangen sein, ist oft eine Aufforderung, umzukehren. „Siehe, er lädt alle Menschen ein, denn die Arme der Barmherzigkeit sind ihnen entgegengestreckt, und er spricht: Kehrt um, und ich werde euch empfangen.“13

Wenn wir sündigen, wenden wir uns von Gott ab. Wenn wir umkehren, wenden wir uns Gott wieder zu.

Der Aufruf, umzukehren, ist selten eine züchtigende Stimme, sondern eher eine liebevolle Aufforderung, sich umzudrehen und sich Gott wieder zuzuwenden.14 Diese Aufforderung ist der Ruf eines liebevollen Vaters und seines einziggezeugten Sohnes, mehr aus uns zu machen, uns in höhere Sphären zu begeben, uns zu ändern und glücklich zu werden, indem wir die Gebote halten. Als Jünger Christi genießen wir die Segnung der Umkehr und die Freude der Vergebung. Dies wird ein Teil von uns und prägt unser Denken und Fühlen.

Unter den Zehntausenden, die jetzt zuhören, gibt es viele Abstufungen der Würdigkeit und Rechtschaffenheit. Doch die Umkehr ist für jeden eine Segnung. Wir alle müssen die Arme der Barmherzigkeit des Heilands spüren, indem wir Vergebung unserer Sünden erlangen.

Vor einigen Jahren wurde ich gebeten, mit einem Mann zu sprechen, der lange zuvor zügellos gelebt hatte. Aufgrund falscher Entscheidungen konnte er nicht mehr der Kirche angehören. Er war zwar schon seit langem wieder in die Kirche zurückgekehrt und hatte treu die Gebote gehalten, doch seine früheren Taten verfolgten ihn. Ich merkte, wie sehr er sich schämte und es bereute, seine Bündnisse missachtet zu haben. Nach unserem Gespräch legte ich ihm die Hände auf und gab ihm einen Priestertumssegen. Noch bevor ich etwas sagte, hatte ich das überwältigende Gefühl, dass der Erlöser ihn liebte und ihm vergeben hatte. Nach dem Segen umarmten wir einander, und der Mann begann zu weinen.

Erstaunt erkannte ich, dass der Erretter den Umkehrwilligen mit den Armen seiner Barmherzigkeit und Liebe umschließt, wie schwerwiegend seine Sünde auch gewesen sein mag. Ich bezeuge Ihnen: Der Erretter kann und möchte uns unsere Sünden vergeben. Mit Ausnahme der Sünden der wenigen, die trotz vollkommenen Wissens das Verderben wählen, gibt es keine unverzeihliche Sünde.15 Wie wunderbar, dass wir uns von unseren Sünden abwenden und zu Christus kommen können. Dass Gott uns vergibt, ist eine der süßesten Früchte des Evangeliums. Unser Herz wird von Schuld und Schmerz befreit, und wir erleben Freude und Seelenfrieden. Jesus fragt: „Wollt ihr nicht jetzt zu mir zurückkommen und von euren Sünden umkehren und euch bekehren, damit ich euch heile?“16

Für einige, die heute zuhören, ist vielleicht „eine mächtige Wandlung [im] Herzen“17 vonnöten, um schwerwiegende Sünden zu überwinden. Vielleicht brauchen Sie die Hilfe eines Priestertumsführers. Die meisten kehren im Stillen und Verborgenen um; sie suchen die Hilfe des Herrn täglich, um nötige Änderungen vorzunehmen.

Für die meisten ist Umkehr eher eine Reise als ein einmaliges Ereignis. Sie ist nicht einfach. Es ist schwer, sich zu ändern. Dazu muss man bei Gegenwind laufen und gegen den Strom schwimmen. Jesus hat gesagt: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“18 Umkehr bedeutet, sich von Dingen wie Unehrlichkeit, Stolz, Groll und unreinen Gedanken abzuwenden; und man muss sich der Freundlichkeit, Selbstlosigkeit, Geduld und Geistigkeit zuwenden. Es bedeutet, sich Gott erneut zuzuwenden.

Wie legen wir fest, worauf wir uns bei der Umkehr konzentrieren sollen? Wenn ein Angehöriger oder ein Freund uns sagt, was wir verändern müssen, meldet sich manchmal der natürliche Mensch in uns zu Wort und entgegnet: „Ach so, du meinst, ich soll mich ändern? Pass mal auf, ich sag dir jetzt, was du alles falsch machst!“ Besser wäre es, sich demütig an Gott zu wenden. Wenn wir beten: „Vater, was soll ich tun?“, bekommen wir eine Antwort. Wir erkennen, was wir ändern müssen. Der Herr sagt es uns in Herz und Verstand.19

Wir können uns dann entscheiden: Üben wir Umkehr oder lassen wir am Fenster, das zum Himmel offen ist, die Jalousien herunter?

Alma hat gewarnt: „Unterfange dich nicht, dich deiner Sünden wegen im Geringsten zu entschuldigen.“20 Wenn wir „die Jalousien herunterlassen“, glauben wir der geistigen Stimme, die uns zur Änderung aufruft, nicht. Wir beten zwar, hören aber kaum zu. Unseren Gebeten fehlt der Glaube, der zur Umkehr führt.21

In diesem Augenblick denkt sich jemand: „Bruder Andersen, Sie verstehen das nicht. Sie wissen nicht, was ich durchgemacht habe. Es ist zu schwer, sich zu ändern.“

Sie haben Recht, ich kann es nicht ganz verstehen. Aber es gibt jemanden, der Sie versteht. Er weiß es. Er hat Ihren Schmerz verspürt. Er hat verkündet: „Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.“22 Der Erretter steht bereit, er wendet sich jedem von uns zu und fordert uns auf, zu ihm zu kommen.23 Wir können umkehren. Wir können es!

Wenn wir erkennen, was wir ändern müssen, sind wir betrübt, anderen Leid zugefügt zu haben. Dies bewirkt, dass wir dem Herrn und, wenn nötig, anderen aufrichtig und von Herzen bekennen.24 Nach Möglichkeit leisten wir Wiedergutmachung für das, was wir beschädigt oder weggenommen haben.

Die Umkehr gehört zu unserem täglichen Leben. Es ist sehr wichtig, jede Woche vom Abendmahl zu nehmen – so werden wir sanft und demütig vor dem Herrn, erkennen an, dass wir auf ihn angewiesen sind, bitten ihn, uns zu vergeben und uns zu erneuern, und geloben, immer an ihn zu denken.

Wenn wir umkehren und uns täglich darum bemühen, Christus ähnlicher zu werden, haben wir immer wieder mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen. Wie beim Erklimmen eines von Wald bedeckten Berges sehen wir manchmal keinen Fortschritt, bis wir uns dem Gipfel nahen und von einer hohen Stelle aus zurückblicken. Seien Sie nicht mutlos. Wenn Sie sich ernsthaft bemühen, umzukehren, hat die Umkehr bereits begonnen.

Mit unserem Fortschritt sehen wir im Leben klarer und spüren, dass der Heilige Geist stärker in uns wirkt.

Manchmal fragen wir uns, warum wir selbst dann an unsere Sünden denken, wenn wir schon lange von ihnen gelassen haben. Warum sind wir auch nach unserer Umkehr noch über unsere Fehler betrübt?

Denken Sie an die schöne Geschichte, die Präsident James E. Faust erzählt hat. „Ich weiß noch, wie damals, als ich ein kleiner Junge war, meine Großmutter … auf dem Holzofen … so herrliche Mahlzeiten zubereitete. Wenn die Holzkiste neben dem Herd leer war, nahm Großmutter still die Kiste und füllte sie draußen am Holzstapel wieder auf und brachte die schwere Kiste ins Haus zurück.“

Präsident Faust fuhr mit bewegter Stimme fort: „Ich war so gefühllos … [Ich saß einfach da und ließ zu], dass meine geliebte Großmutter die Holzkiste in der Küche auffüllte. Ich schäme mich dessen und bereue diese [Sünde der] Unterlassung schon mein Leben lang. Hoffentlich kann ich sie eines Tages um Verzeihung bitten.“25

Es waren über 65 Jahre seither vergangen. Wenn Präsident Faust sich nach all den Jahren noch immer daran erinnerte und es bereute, dass er seiner Großmutter nicht geholfen hatte, überrascht es uns da, wenn wir an Verfehlungen denken und sie bereuen?

In den Schriften steht nicht, dass wir die Sünden, von denen wir gelassen haben, während unseres Erdendaseins vergessen werden, sondern dass der Herr sie vergessen wird.26

Von den Sünden zu lassen bedeutet, sich ihnen nie wieder hinzugeben. Das braucht Zeit. Um uns dabei zu helfen, lässt der Herr es zu, dass uns die Narben unserer Fehler im Gedächtnis bleiben.27 Das ist ein wichtiger Teil des irdischen Lernprozesses.

Wenn wir unsere Sünden aufrichtig bekennen, Wiedergutmachung leisten und von unseren Sünden lassen, indem wir die Gebote halten, wird uns Vergebung zuteil. Mit der Zeit spüren wir, wie die schmerzhafte Reue nachlässt, weil „die Schuld aus dem Herzen weggenommen“28 wird und wir „Frieden im Gewissen“29 haben.

Allen wahrhaft Umkehrwilligen, die scheinbar keine Linderung erfahren, sage ich: Halten Sie weiterhin die Gebote! Ich verheiße Ihnen: Die Linderung wird gemäß dem Zeitplan des Herrn kommen. Heilung braucht auch Zeit.

Wenn Sie besorgt sind, fragen Sie Ihren Bischof um Rat. Der Bischof hat die Gabe des Erkennens.30 Er wird Ihnen helfen.

In den heiligen Schriften werden wir ermahnt, „den Tag [unserer] Umkehr nicht bis zum Ende aufzuschieben“.31 Es ist in diesem Leben jedoch nie zu spät zur Umkehr.

Ich wurde einmal gebeten, mit einem älteren Ehepaar zu sprechen, das gerade wieder zur Kirche zurückkam. Ihre Eltern hatten sie im Evangelium unterwiesen. Nach ihrer Eheschließung hatten sie die Kirche verlassen. Nun, nach fünfzig Jahren, kamen sie wieder zurück. Ich weiß noch, dass der Ehemann ins Büro kam und ein Sauerstoffgerät hinter sich herzog. Sie bedauerten, nicht glaubenstreu geblieben zu sein. Ich sagte ihnen, wie sehr wir uns über ihre Rückkehr freuten, und versicherte ihnen, dass der Herr alle, die umkehren, mit offenen Armen empfängt. Der alte Mann erwiderte: „Das wissen wir, Bruder Andersen. Aber wir sind so traurig, weil unsere Kinder und Enkelkinder sich nicht der Segnungen des Evangeliums erfreuen. Wir sind wieder zurück, aber wir sind allein.“

Sie waren nicht allein zurück. Die Umkehr verändert nicht nur uns selbst, sondern hilft auch unseren Lieben. Durch unsere aufrichtige Umkehr werden gemäß dem Zeitplan des Herrn nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Kinder und Kindeskinder von den ausgestreckten Armen des Erlösers berührt. Umkehr bedeutet immer, dass uns mehr Glücklichsein erwartet.

Ich bezeuge, dass unser Erretter uns von unseren Sünden befreien kann. Ich selbst habe seine erlösende Macht verspürt. Unmissverständlich habe ich seine heilende Hand im Leben Tausender unter den Völkern der Welt gesehen. Ich bezeuge, dass uns diese Gabe Schuld aus dem Herzen nimmt und uns Seelenfrieden bringt.

Er liebt uns. Wir sind Mitglieder seiner Kirche. Er lädt uns alle ein, umzukehren, uns von unseren Sünden abzuwenden und zu ihm zu kommen. Ich bezeuge, dass er da ist. Im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. 3 Nephi 9:14

  2. Siehe Mormon 6:17

  3. Siehe Alma 19:36

  4. Siehe 2 Könige 17:36; Psalm 136:12

  5. Siehe 2 Nephi 1:15

  6. Siehe LuB 123:6

  7. Siehe 3 Nephi 20:35

  8. Siehe Alma 5:33

  9. Siehe Alma 34:16

  10. Siehe LuB 6:20

  11. 2 Nephi 28:32

  12. 2 Nephi 8:12

  13. Alma 5:33

  14. Siehe Helaman 7:17

  15. Siehe Boyd K. Packer, „Der strahlende Morgen der Vergebung“, Der Stern, Januar 1996, Seite 18

  16. 3 Nephi 9:13

  17. Alma 5:12

  18. Matthäus 16:24

  19. Siehe LuB 8:2

  20. Alma 42:30

  21. Siehe Alma 34:17,18

  22. Jesaja 49:16

  23. Siehe 3 Nephi 9:14

  24. Siehe LuB 58:43

  25. James E. Faust, „Das Wichtigste im Gesetz: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue“, Der Stern, Januar 1998, Seite 60

  26. Siehe LuB 58:42,43; siehe auch Alma 36:17–19

  27. Siehe Dieter F. Uchtdorf, „Der, Point of Safe Return‘“, Liahona, Mai 2007, Seite 101

  28. Alma 24:10

  29. Mosia 4:3. In den heiligen Schriften wird unser Glück in diesem und im nächsten Leben mit einem ruhigen Gewissen in Verbindung gebracht. Beachten Sie Almas Lehre, dass das Gegenteil von Freude Gewissensqual ist (siehe Alma 29:5). Andere Propheten verbinden die Qual der Schlechten nach diesem Leben mit der Schuld, die sie empfinden (siehe 2 Nephi 9:14,46; Mosia 2:38; 3:24,25; Mormon 9:5). Joseph Smith hat gesagt: „Der Mensch quält und verurteilt sich selbst. Daher der Satz: Sie werden in den See von Feuer und brennendem Schwefel gehen. Für den Menschen ist die Qual der Enttäuschung genauso heftig, wie wenn er sich in einem See von Feuer und brennendem Schwefel befände.“ (Lehren des Propheten Joseph Smith, Seite 363.)

  30. Siehe LuB 46:27

  31. Alma 34:33