Vergebung ermöglicht Heilung und Liebe

– Schwester Linda S. Reeves von der FHV-Präsidentschaft

  • 30. April 2015

Zwei Frauen in Rumänien reden miteinander. Vergebung ist der erste Schritt zur Heilung, wenn jemand uns Unrecht getan hat.  

„Wir können alle möglichen Gründe dafür finden, die Vergebung hinauszuschieben. Einer dieser Gründe ist, darauf zu warten, dass der Übeltäter umkehrt, ehe wir ihm vergeben. So ein Aufschub verhindert jedoch, dass wir Frieden und Glück empfinden können.“ – Präsident James E. Faust (1920–2007)

Vor kurzem las ich die bekannte Geschichte im Buch Mormon über Nephi und seine Brüder. Gemäß dem Bericht kehren sie nach Jerusalem zurück, um Ischmael und seine Familie zu überzeugen, sich Lehis Familie in der Wildnis anzuschließen, damit ihre Kinder heiraten können. Auf dem Rückweg murren Laman und Lemuel gegen Nephi, bedrohen sein Leben und binden ihn mit Stricken, „damit [er] von wilden Tieren gefressen würde“ (1 Nephi 7:16).

Als Nephi darum betet, befreit zu werden, gibt der Herr ihm Kraft, die Bande zu zerreißen. Ischmaels Frau, eine Tochter und ein Sohn bitten darum, Nephis Leben zu verschonen. Ihr Flehen und der Geist des Herrn berühren das Herz von Laman und Lemuel, die daraufhin große Reue verspüren, vor Nephi niederknien und um Vergebung bitten (siehe 1 Nephi 7:20).

Sind wir nicht immer wieder tief berührt von Nephis demütiger Reaktion: „Freimütig vergab ich ihnen“ (1 Nephi 7:21)? Nephi vergab sofort, aufrichtig und vollständig.

Glücklicherweise haben die meisten von uns keine solchen extremen Familienbeziehungen erlebt, aber wir kennen auch die Geschichte von Jakob – oder Israel – und seinen Söhnen. Nachdem Josefs eifersüchtige Brüder damit gedroht haben, ihn zu töten, wird er als Sklave verkauft und nach Ägypten gebracht, mit wenig Hoffnung darauf, seinem Schicksal zu entkommen oder je wieder jemanden aus seiner Familie zu sehen. Er verbringt mehrere Jahre als Sklave und Gefangener in diesem fremden Land.

Viele Jahre später, als Josef mit seinen Brüdern vereint wird und sich ihnen offenbart, „begann [er] laut zu weinen … Josef sagte zu seinen Brüdern: … Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Jetzt aber lasst es euch nicht mehr leid sein und grämt euch nicht, weil ihr mich hierher verkauft habt. Denn um Leben zu erhalten, hat mich Gott vor euch hergeschickt. … Josef küsste dann weinend alle seine Brüder.“ (Genesis 45:2-5,15.) Josef vergab ihnen voll und ganz, dann sorgte er während der großen Hungersnot, die in dem Gebiet damals herrschte, für all seine Brüder und deren Familie.

Auf einem Gemälde von Ted Henninger wird Josef dargestellt, wie er von seinen Brüdern in die Sklaverei verkauft wird. Viele Jahre später vergab er ihnen allen.

17 Jahre später stirbt Vater Jakob, und die Brüder befürchten, dass sich Josef nun gegen sie wenden und nach Rache trachten wird. Diese Brüder erkannten nicht die vollständige und uneingeschränkte Vergebung und die tiefe Liebe und das Mitgefühl, die durch das Sühnopfer unseres Erlösers, Jesus Christus, kommen können. Sie schickten einen Boten zu Josef, der ihn bat: „Vergib doch deinen Brüdern ihre Untat und Sünde. … Als man ihm diese Worte überbrachte, musste Josef weinen. Seine Brüder gingen dann auch selbst hin, fielen vor ihm nieder und sagten: Hier sind wir als deine Sklaven.“ Josef, dessen Herz voller Liebe war, sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! … Ich will für euch und eure Kinder sorgen. So tröstete er sie und redete ihnen freundlich zu.“ (Genesis 50:17-21.) Was für eine Geschichte über Vergebung und Liebe!

Vielleicht erinnern Sie sich auch an die schöne, rührende Ansprache mit dem Titel „Die heilende Kraft der Vergebung“, die unser lieber Präsident James E. Faust von der Ersten Präsidentschaft bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 2007 hielt. Wir denken oft an ihn, weil er so einen gütigen und sanften Geist hatte. Ist es nicht bedeutend, dass diese Botschaft der Vergebung seine letzte Generalkonferenzansprache war?

Präsident Faust erinnerte uns an eine Begebenheit im Oktober 2006, als ein 32-jähriger Milchmann in eine Schule der Amish in Pennsylvania stürmte, auf zehn Mädchen schoss, von denen fünf starben, und sich dann selbst das Leben nahm. Präsident Faust erklärte: „Diese schockierende Gewalt verursachte großen seelischen Schmerz unter den Amish, jedoch keinen Zorn. Sie waren verletzt, aber hassten nicht. Ihre Vergebung kam sofort. Gemeinsam begannen sie, sich um die leidende Familie des Milchmanns zu kümmern. … Ein Amish-Nachbar … umarmte den Vater des toten Schützen und sagte: ‚Wir werden euch vergeben.‘ Führende Amish besuchten die Frau und die Kinder des Milchmanns, um ihnen ihr Mitgefühl auszusprechen, und zeigten sich vergebungsbereit, hilfsbereit und liebevoll. Etwa die Hälfte der Trauernden bei der Bestattung des Milchmanns waren Amish. … Ein bemerkenswerter Friede kam über die Amish, als ihr Glaube sie in dieser Krise stützte.“

Präsident Faust fragte uns: „Wie konnte die gesamte Gruppe der Amish auf solche Weise ihre Vergebung zum Ausdruck bringen? Es war möglich durch ihren Glauben an Gott und ihr Vertrauen in sein Wort, beides Teil ihres innersten Wesens. Sie sehen sich als Jünger Christi und wollen seinem Beispiel folgen.“

Präsident Faust fuhr fort: „Vergebung geschieht nicht immer so unverzüglich, wie es bei den Amish geschah. Wenn unschuldige [Menschen] missbraucht oder getötet werden, hat bei den meisten von uns der erste Gedanke nichts mit Vergebung zu tun. Unsere natürliche Reaktion ist Zorn. Wir fühlen uns möglicherweise sogar gerechtfertigt in dem Wunsch, sich an dem zu rächen, der uns oder unserer Familie Verletzungen zufügt. … Die meisten von uns benötigen Zeit, um Schmerz und Verlust zu verarbeiten. Wir können alle möglichen Gründe dafür finden, die Vergebung hinauszuschieben. Einer dieser Gründe ist, darauf zu warten, dass der Übeltäter umkehrt, ehe wir ihm vergeben. So ein Aufschub verhindert jedoch, dass wir Frieden und Glück empfinden können.“

Gewiss ist das größte Vorbild unser Heiland, Jesus Christus. Wir staunen über seine Bereitschaft und Macht, uns zu vergeben und von unseren Sünden zu reinigen, wenn wir wahrhaft umkehren. Mögen wir während dieses Ostermonats, wenn wir den Wunsch verspüren, unsere eigenen tiefen Gefühle und unsere Dankbarkeit für den Herrn zum Ausdruck zu bringen, an sein Sühnopfer für einen jeden von uns sowie an seine tiefe Liebe und Barmherzigkeit denken, die er zeigte, als er am Kreuz hing und unseren Vater anflehte: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23:34.)

Mögen wir in uns gehen und denen vergeben, die unser Mitgefühl, unsere Liebe und unser Verständnis brauchen.